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Roland Voser & Maurizio Vogrig
Verleger smartmyway
Cademario im Frühling 2025
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Die Tessiner Tagebücher von Kathrin Rüegg.
In den letzten 5 Jahren hat der Schweizer Verlag smartmyway in vielen unentgeltlichen Stunden Kathrin Rüeggs Bücher neu aufgelegt, weil die lebensbejahenden Geschichten dieser bemerkenswerten Unternehmerin aktueller denn je sind und ein neues Publikum erreichen sollen.
Der Verlag präsentiert 2025 dieses ideelle Projekt erstmals komplett mit den neun Tessiner Tagebüchern in Taschenbuchform als Einzelbände und in drei Sammelbänden, sowie den zwei dazu gehörenden Bildbänden. Sogar eine englische Version gibt es jetzt vom ersten Band.
Kleine Welt im Tessin von Kathrin Rüegg.
Erstes Tessiner Tagebuch.
Ein Lesebuch von smartmyway.
Kapitel 4.
JULI
Der Esel und die Gärtnerin
Dann kam ein strahlender Sommersonntag. Ich legte mich in die Sonne, genoß die wohlige Wärme, die Aussicht, den leisen Wind, den Anblick der blühenden Wiese und der vielen tanzenden Schmetterlinge – das Leben überhaupt. Der Lindenbaum duftete betörend. Michelangelo werkelte allerhand um mich herum und setzte sich schließlich auf den Spaltklotz, den Thron des Königs vom Monte Valdo.
„Findest du nicht, daß es schön wäre, ein paar Hühner zu haben? Ein frisches Ei am Morgen wäre etwas Herrliches.“
Und ich fuhr fort: „Findest du nicht, daß es schön wäre, ein paar Kaninchen herumhopsen zu lassen? Ein eigener Sonntagsbraten wäre wundervoll.“
„Wenn wir schon Hühner und Kaninchen halten, dann könnten wir auch einen Esel beschaffen. Der könnte Zementsäcke und Sand tragen, das Farnkraut abfressen …“ spann Michelangelo den Faden weiter.
„Ach, und ein paar Ziegen und ein Schwein und Schafe …“
„Oder wir könnten Fasanen züchten und an die Hotels von Ascona und Locarno verkaufen …“
Leider mußte ich all diese Luftschlösser (oder sollte man in diesem Falle Luftställe sagen?) brutal zerstören.
„Tiere machen Arbeit. Zuerst müssen unsere Häuser soweit sein, daß wir sie vermieten können. Das bringt bares Geld. Dann müssen wir deine Wohnung ausbauen. Und wenn es soweit ist, dann suchen wir eine junge, hübsche Gärtnerin. Die kann sich dann ums Gemüse kümmern, und du wirst Zeit für Tiere haben. Wer weiß, vielleicht finden wir sogar eine Gärtnerin, die du heiraten willst.“
Anstatt vor Freude über meinen Vorschlag in die Luft zu springen, senkte Michelangelo den Kopf und sagte: „Aber ich hätte lieber einen Esel, weil …“, dann stockte er.
„Weil was?“
„Ach, einfach so.“
„Sei doch nicht so blöd. Wenn unsere Landwirtschaft blühen soll, brauchen wir eine Gärtnerin.“
„Also meinetwegen.“ Er machte eine Pause, atmete tief ein und stieß dann hervor: „Aber heiraten tu‘ ich sie nur, wenn sie ganz, ganz genau gleich ist wie du!“
Sein Gesicht war plötzlich rot geworden. Die Augen hatte er gesenkt.
In genau diesem Augenblick setzte sich ein Schmetterling auf Michelangelos Nase. Er merkte es nicht einmal. So entsetzlich verlegen war er.
Nach einer weiteren Pause sagte er: „So, jetzt weißt du, wie es um mich steht. Ich hätte es dir nie zu sagen gewagt, wenn du mich mit deiner Fragerei nicht so in die Enge getrieben hättest.“
Ich war gerührt und hätte mich gleichzeitig ohrfeigen können. Ich war das einzige menschliche Wesen, das er während mehr als zwei Monaten gesehen hatte. Dank mir hatte er zu essen, zu trinken, ein Dach über dem Kopf – und dummerweise war ich eine Frau.
Da war ich nun über Kaninchen, Hühner, einen Esel und eine Gärtnerin unversehens in Michelangelos Herzensgeheimnis hineingeraten. Aber vielleicht war das gut. So konnte ich die Situation klären, bevor sie kritisch wurde.
„Ach schau, es ist eigentlich ganz normal, daß du dich ein bißchen in mich verliebt hast. Da war einfach keine Auswahl, sonst hättest du eine Jüngere vorgezogen. Ich bin doch mehr wie eine ältere Schwester, koche für dich und mahne dich zu deinem Leidwesen täglich, dir die Zähne zu putzen.“
In der Luft hing ein beinahe sichtbares Fragezeichen. Meine Argumente schienen ihn nicht sehr zu überzeugen.
Ich fuhr fort: „Mir scheint, es wird Zeit, daß du wieder einmal unter Menschen kommst. Nächstes Wochenende machst du frei. Ich gebe dir mein Auto und ein bißchen Geld. Du fährst irgendwohin, wo es dir gefällt, und spielst Kurgast.“
Ich doppelter Idiot bildete mir ein, Michelangelo sei von seiner Alkoholsucht bereits geheilt. Hier war er zufrieden mit seiner täglichen Ration: einem Liter Wein und einem Glas Grappa nach dem Essen. Allerdings – er mußte notgedrungen damit zufrieden sein, weil ich immer nur genau eine Wochenration für uns beide aus dem Tal mitbrachte.
Strafe
Der erste Einkauf nach meiner Genesung waren siebzig Meter Wasserschlauch, mit dem wir das Wasser unseres Quellchens in die Zisterne leiteten. Etwa einen Liter pro Minute brachte es. Wir waren eigentlich da mit schon im Überfluß versehen. Man lernt schnell, Trinkwasser zu sparen, wenn man es von weit hertragen muß. Unser Bedarf war auf zweimal zwanzig Liter pro Woche gesunken, wenn wir uns im Zisternenwasser waschen konnten. Als ich am Brunnen vorbeifuhr, streckte ich ihm die Zunge heraus.
Ob es der Wassergeist war, der mir meine Ungezogenheit übel nahm, ob der Schutzpatron vom Monte Valdo Michelangelo strafen wollte? Ich weiß es nicht.
Ich weiß nur, daß wir die andern drei Wasserstränge nicht fanden und daß unser Quellchen nach einer guten Woche versiegte.
Das kam so:
Michelangelo war am Samstag, versehen mit Autoschlüssel, Geld und vielen guten Ermahnungen, angetan mit seinen neuen blauen „Bluschings“ und einem roten Hemd, vergnügt davongezogen. Er freute sich auf sein freies Wochenende und versprach mir, am Sonntagabend wieder heimzukommen.
Bei seinem Weggang floß die Quelle noch.
Nun war ich zum erstenmal ganz allein auf dem Monte Valdo. Einsam fühlte ich mich nicht. Die Tiere sorgten für genügend Betrieb. Susis Söhnchen Bimbo war jetzt gut zwei Monate alt und ungefähr das süßeste Ding, das der liebe Gott je erschaffen hat. Seine Öhrchen, die anfänglich scheinbar falsch angeklebt an einem zu großen, runden Köpflein hingen, hatten jetzt die richtige Form angenommen. Bimbos Augen waren von unschuldigstem Himmelblau, und sein Fell war lang und seidig glänzend. Das trug ihm denn auch den Namen „Seidenglanz“ ein, Bimbo Seidenglanz. Wie Susi es fertiggebracht hat, in Froda einen vornehmen Angorakater als Vater ihres Kindes zu finden, bleibt ungeklärt.
Bimbos Rücken war grauschwarz getigert, Gesicht, Brust und Bauch leuchteten weiß. Die Beinchen schienen in weißen Stiefelchen zu stecken. Sein Wortschatz war noch nicht groß. Er umfaßte erst ein allereinziges Wort: „Miii“. Damit unterhielt er sich mit Susi so gut wie mit den beiden Hunden.
Alle vier veranstalteten wilde Hetzjagden vom langen Haus über den Platz bis ans Ende des Weinbergs. Wir hatten diese Strecke den „Corso Bimbo“ getauft. Falls Susi die Angelegenheit als zu gefährlich für Bimbo erachtete, stellte sie sich mit einem Buckel zwischen ihr Kind und die Hunde. Diese stoppten ihren rasenden Lauf, alle vier kugelten unter- und übereinander.
Es wurde warm und immer wärmer. Die Tiere verkrochen sich irgendwo im Schatten. Das Quellchen tröpfelte regelmäßig in einen Eimer. Ich schlief ein.
Ich erwachte erst wieder, als die Sonne schon unter gegangen war und die Tiere, nach ihrem gewohnten Futter bettelnd, um mich herumstrichen, bellten und miauten.
Als ich ihr Trinkgeschirr frisch füllen wollte, merkte ich es: die Quelle floß nicht mehr. Sehr besorgt machte mich das nicht. Wahrscheinlich war der Schlauch oben aus der Halterung gerutscht. Ich war so leichtsinnig, die Reparatur auf den folgenden Tag zu verschieben. Dann saß ich lange an unserem Tisch, den wir auf den Platz hinausgestellt hatten, und schaute in meine Welt.
Langsam verdämmerte der Tag. Die Berge hoben sich dunkelblau von einem erst türkisfarbigen, dann immer zarter grün werdenden und schließlich verblassenden Himmel. Die Lichter von Magadino, Vira, Piazzogna flackerten auf. Im Eichenbaum unterhalb des Gartens wisperte ein verschlafenes Vögelchen, die Glocken von Sassariente läuteten mit ihrem rhythmuslosen Ding-Dong den Sonntag ein. Es war fast zum Heulen schön – und ich war wunschlos glücklich. Nein – vielleicht wäre es noch schöner gewesen, all diese Genüsse mit jemandem teilen zu können. Aber alles auf der Welt kann man ja schließlich nicht haben.
Ich schlief nicht gut. Daran waren die Stechmücken und ein Ghiro schuld. Stechmücken haben auf italienisch einen äußerst bezeichnenden Namen: Zanzare. Wenn man das mit dem weichen italienischen Z ausspricht, hört man sie förmlich schwirren. Ja, sie schwirrten mir um die Ohren, zerstachen mir Gesicht und Arme, so daß ich schließlich trotz der Wärme ein Nachthemd mit langen Ärmeln anzog und mich tief in meinen Schlaf sack verkroch. In Zukunft würde ich im Dunkeln ins Bett gehen, um sie nicht durchs Kerzenlicht anzulocken.
Dann kam Susis Freund, der Siebenschläfer, um mich zu ärgern. Vielleicht wollte er mich auch nur ein bißchen unterhalten. Alle andern Ghiri hatte Susi erbarmungslos umgebracht. Einen aber, der in meinem Zimmer über der Fensterluke in einem Mauerloch hauste, verschonte sie aus unerfindlichen Gründen. Ich versuchte meinerseits, ihn zu ärgern, und zündete mit der Taschenlampe ins Gebälk, seine Klettertour verfolgend. Aber das Licht der Lampe zog wieder die Mücken an.
Es ist schwer, das Geräusch zu beschreiben, das Siebenschläfer von sich geben. Es kommt dem Quietschen von kleinen Schweinchen gleich. Immer wenn man meint, sie hätten jetzt ihr Konzert beendet, fangen sie von neuem an.
Weil Michelangelos Zoccoligeklapper mich nicht weckte, erwachte ich ungewöhnlich spät. Es war wieder ein strahlender Tag. Nun würde ich mir einen schönen Kaffee kochen, die Haare waschen, mich einölen und dann in die Sonne legen. Ein Kurgast-Sonntag also. Wie fühlte sich Michelangelo wohl als Kurgast?
Eine ertrunkene Maus riß mich jäh zurück in den harten Alltag. Sie war in den Eimer gefallen, der unter der Schlauchmündung stand. Es floß immer noch kein Wasser.
Ich bin zwar nicht heikel, doch Kaffeewasser mit ertrunkenen Mäusen ist nicht mein Fall. Ich kletterte also hinauf zu unserer Quellfassung. Aber da war keine Quelle mehr. Der Boden war trocken. Knochentrocken. Der Sand rieselte durch meine Hände. Die Quelle war einfach weg, wie wenn sie nie gewesen wäre.
Einen Moment lang war ich fassungslos, dachte an den Brunnen, dem ich die Zunge herausgestreckt hatte, schämte mich ein bißchen.
Dann holte ich Pickel und Schaufel und begann zu graben. Der Kaffee mußte eben warten.
Während des ganzen schönen Sonntags, den ich eigentlich auf dem Liegestuhl zubringen wollte, grub ich nach Wasser. Ich stillte den Durst mit etwas Wein. Die Milchration der Katzen wollte ich nicht angreifen. Wenn Michelangelo zurückkam, mußte er sofort zum Brunnen fahren und die Kanister füllen.
Aber Michelangelo kam nicht.
Er erschien auch am Montag nicht.
Ich ging mit einem der Kanister zu Fuß zum Brunnen und kehrte recht verärgert wieder heim. Anderthalb Stunden hatte es mich gekostet, zehn Liter Wasser hierher zu schleppen. Dann setzte ich meine Grabarbeit fort.
Auch am Dienstagmorgen war Michelangelo noch nicht da. Er mußte einen Unfall erlitten haben! Ich machte mich auf den Weg nach Sassariente, um von dort aus die Polizei zu alarmieren.
Beim Brunnen stand mein Auto. Michelangelo saß zusammengekrümmt am Steuer und – schnarchte.
„‘tschuldigung“, murmelte er, als ich ihn recht unsanft schüttelte, „k‘n B‘nzin meh‘.“ Er rülpste. Er stank nach Fusel und war ganz einfach stockbesoffen.
Bis zu jenem Augenblick hatte ich nicht gewußt, wie wütend ich werden kann. Hätte er vor mir gestanden, ich hätte ihm wahrscheinlich ein paar saftige Ohrfeigen verabreicht.
So packte ich ihn nur bei den Schultern und schüttelte ihn wie einen Sack voller Kehricht. Sein Kopf baumelte willenlos hin und her, und – weiß Gott dann schnarchte er weiter! Ich stampfte mit dem Fuß und sammelte meinen gesamten Schatz an schweizerdeutschen und italienischen Flüchen. Die schrie ich ihm ins Gesicht.
Sehr beeindruckt hat ihn das nicht.
Dann wies ich auf den Wasserkanister: „Wir haben seit Sonntag kein Wasser mehr!“
Er hob die Augendeckel etwas und schaute mich mit verschwommenem Blick an. „Eh?“
Es dauerte eine Weile, bis sein mit Alkohol vollgepumptes Hirn meine Worte richtig aufgenommen hatte. Ich füllte den mitgebrachten Wasserkanister und schubste Michelangelo auf den Mitfahrersitz. Zum Glück hatte ich eine kleine Benzinreserve, die jetzt bis zum Parkplatz und später zurück zur Tankstelle in Sassariente reichen würde.
Der Weg durch den Wald war eine Tortur.
Zu Hause angelangt, brühte ich starken Kaffee. Michelangelo wollte sich dann hinlegen, um seinen Rausch auszuschlafen. Ich Närrin, ich Dummkopf, ich Trottel, um diesen Nichtsnutz, um diesen Vagabunden und Säufer hatte ich mich gesorgt!
Ich drückte ihm die Schaufel in die Hand.
„Los jetzt, wir müssen unser Wasser wieder ausgraben!“
Ein fleißiger Arbeiter war er an jenem Tag nicht. Aber Strafe mußte sein. Für ihn so sehr wie für mich. Ich hätte wissen müssen, daß man einen Alkoholiker nicht mit Geld und einem Auto versieht und ihm empfiehlt, sich einen schönen Sonntag zu machen.
Der Geist vom Monte Valdo war böse mit uns. Wir fanden an jenem Tag kein Wasser.
Wir fanden es auch in den nachfolgenden sechs Wochen nicht. Wenn ich mich an jene Zeit zurückerinnere, rieche ich Schweiß, höre ich das Summen der Zanzare, die uns im Graben entsetzlich plagten, fühle ich die Müdigkeit in all meinen Knochen.
Es war heiß. Das Thermometer stieg jeden Tag über fünfunddreißig Grad im Schatten. Die Zisterne war leer. Es regnete nie. Die Kirschbäume hingen voller Früchte. Wir pflückten beim Vorbeigehen ein paar Hände voll. Den Rest überließen wir den Vögeln.
Wir mußten unsere Quelle finden.
Wenn ein Graben mehr als zwei Meter tief ist, wird die Arbeit mühsam. Wir teilten uns so ein, daß Michelangelo die harte Lehm- und Sandschicht mit Stemmeisen und Pickel löste und den Aushub abwechslungsweise in zwei Eimer schaufelte. Meine Arbeit war es, diese Eimer aus dem Graben zu tragen und auszuleeren. Dann kam der Moment, wo der Graben so tief war, daß Michelangelo die Eimer nicht mehr zu mir hochheben konnte. Wir banden ein Seil daran. So konnte ich sie hochziehen.
Zum Zeitvertreib lernte ich auf tessinerisch zählen:
„Wün, dü, tri, quater, cinc, ses, sett, wuot, nöf, des.“ Einmal hielt ich das einen Tag lang durch und kam bis zweihundertdreiundachtzig.
Nach dem Zählen kam das Rechnen. Wenn ein Eimer zwanzig Kilogramm schwer war und ich in einer Stunde fünfundzwanzig solche Lasten etwa zehn Meter weit trug, wieviel Tonnen und wieviel Meter gab das? Pro Stunde? pro Tag? pro Woche?
Unterhalb des Grabens häufte sich langsam ein Berg. Ich mußte immer mehr Stufen ersteigen, um meine
Eimer auf der Spitze zu leeren.
Die Tiere kamen am Morgen jeweils mit uns. Leider hat uns nie jemand gesehen. Es müßte ein drolliger Anblick gewesen sein: Die Hunde rannten voraus; dann kam Michelangelo, sein langes Haar ungekämmt, der Bart struppig, in der Hand ein Fiasco Wein; dann ich mit meinen hohen Gummistiefeln, auf dem Rücken Michelangelos fellbezogenen Militärtornister mit dem Proviant, und schließlich Susi und Bimbo. Eins schön hinter dem andern wie ein Appenzeller Alpaufzug. Und dem Weg entlang blühten Feuerlilien.
Ich wurde nervös. Was machte ich, wenn der Graben einstürzte und Michelangelo unter sich begrub? Wir hatten den oberen Teil mit Pfählen und Brettern versprießt, und Michelangelo versicherte mir, es könne wirklich nichts passieren. Ich hatte trotzdem Angst.
Unser Graben war an die fünf Meter tief, als Michelangelo eines Abends herauskletterte und mir eine Hand voll Lehm vor die Füße pflatschte. Der Lehm war feucht. Man kann auch wegen eines Klumpens feuchten Lehms weinen.
In ein paar Tagen war es so weit, daß wir nicht mehr zum Brunnen gehen mußten, um uns zu waschen, daß ich am Morgen und am Abend meine Dusche nehmen konnte, daß ich kübelweise Wasser verschwenden konnte, um unser Geschirr zu waschen. Würde das schön sein!
Am Dienstag sagte Michelangelo: „Morgen haben wir Wasser. Ab dann werde ich mir meine Zähne sogar zweimal täglich putzen.“
Am Mittwoch sagte ich: „Morgen haben wir Wasser, dann werden wir Salat essen und Spaghetti kochen.“ Ich hatte unsern Speisezettel längst so eingeteilt, daß ich alles vermied, was viel Wasser brauchte. Wir nährten uns deshalb hauptsächlich von Salami, Käse, Brot und Äpfeln. Am Donnerstag sagte Michelangelo: „Morgen ist Freitag, der dreizehnte, da finden wir Wasser.“
Am Freitag sagte ich: „Morgen ist Vollmond, da müssen wir Wasser finden.“
Aber wir fanden es nicht, obschon sich die Haselrute um ihre eigene Achse drehte, wenn ich sie im Graben vor mich hin hielt. Silvia konnte ich nicht mehr fragen, was dies bedeute. Sie war vor ein paar Wochen gestorben. Wie tief unser Graben wohl geworden wäre, wenn sich das Mißverständnis nicht aufgeklärt hätte?
Ich mußte wegen meiner Niederlassungspapiere auf der Gemeindekanzlei von Sassariente vorsprechen und hatte dies immer wieder hinausgeschoben, weil mir außer dem Wasser alles andere unwichtig war.
„Wir würden Ihnen gerne endlich die Baubewilligung zustellen“, sagte der Gemeindesekretär. „Warum unterschreiben Sie die verlangte Erklärung nicht?“
„Wie kann ich unterschreiben, daß ich mich damit einverstanden erkläre, von Ihnen kein Wasser zu erhalten?“, war meine etwas empörte Gegenfrage.
„Aber davon kann doch gar keine Rede sein“, sagte er. „Wir schrieben Ihnen doch nur in dem Sinn, daß Sie die Wasserleitung von der Abzapfstelle bis zu Ihren Häusern auf Ihre eigenen Kosten bauen müssen …“
Bis an mein Lebensende werde ich nicht vergessen, daß „Non intendiamo dotarla dell‘acqua“, also: „Wir haben nicht die Absicht, Sie mit Wasser zu versehen“, keineswegs heißt, daß man es nicht bekommt, sofern man es nur selbst holt. Ich unterschrieb die Erklärung.
„Kathrin Rüegg, hast du gewußt, daß du so ein Dummkopf bist?“, fragte meine innere Stimme.
In den Wochen, die wir in unserm vermaledeiten Graben zubrachten, hätten wir eine wunderschöne Leitung von der Abzapfstelle auf dem Parkplatz bis zum Monte Valdo und noch ein ganzes Stück weiter fertiggebracht.
Der Gemeindesekretär fügte dann bei, daß ich mit den Grabarbeiten erst beginnen dürfe, wenn ich die Genehmigung schriftlich in Händen hätte. Er konnte mir nicht sagen, wie lange das noch dauern würde. Also schleppten wir eben unsere Kanister weiterhin. Hoffentlich würde es nie mehr eine so lange Trockenperiode geben, daß sich unsere Zisterne ganz leerte.
„Aber nicht wahr, wir schütten das Loch nicht wieder zu“, bat mich Michelangelo.
„Vorläufig sicher nicht, aber wieso ist dir das so wichtig?“
„Ach, weißt du, dort gäbe es eine wundervolle geheime Schnapsbrennerei, die nie im Leben jemand finden würde.“
„Wann wirst du es endlich fertigbringen, einmal nicht nur an Alkohol zu denken?“
Wir beschlossen, nun ein weiteres Gartenstück zu roden. Da verstauchte ich meinen Fuß. Beim Geschirr waschen. Auch das muß man können.
Unsere Freiluftküche
Ich hätte meine Küche gegen keine noch so raffiniert ausgebaute, airconditionierte, mit allen Schikanen versehene Einbauküche getauscht.
Es war mir schon bald nach Beginn meiner Hausfrauentätigkeit auf dem Monte Valdo zu mühsam geworden, die Lebensmittel und Wasserkanister im Keller zu holen und nachher wieder fortzuräumen, aus dem Haus zu gehen, um das Spülwasser auszugießen, zum Brunnen zu marschieren, um Abwaschwasser zu holen (solange es dort noch Wasser gab). Wir verlegten deshalb unsere ganze Küche kurzerhand ins Freie. Zwischen dem Stall und Michelangelos Haus war ein Brunnentrog, in den eine Regentraufe mündete. Aber es regnete ja nie. So stellten wir die Butangasbombe in den Trog. Der Kocher, Essig, Öl, meine Gewürze und das Salz kamen auf ein darüber gelegtes Brett, Geschirr und Abwaschbecken auf die Außentreppe zum Stall.
Die Höhe der Treppenstufe für das Abwaschbecken paßte mir nicht. Entweder war ich zu klein oder die Stufe zu hoch. Deshalb legte Michelangelo eine Steinplatte dorthin, wo ich mich seitlich zur Treppe jeweils aufstellte, um mein Geschirr zu spülen.
Und über diese Steinplatte glitt ich ab, fühlte einen so stechenden Schmerz in meinem Fußgelenk, daß mir die Tränen in die Augen schossen. Ich mußte mich mit dem gesunden Fuß und beiden Händen gegen Michelangelo wehren, der fand, „massaggi“ würden hier am besten helfen.
Der Fuß schwoll an und schmerzte höllisch. Für eine Weile war ich nun blockiert. Wohl oder übel mußte ich Michelangelo die Einkaufs- und Posttouren überlassen. Wenn nur keine Sauftouren daraus wurden!
Ganz im Stillen war ich glücklich darüber, denn ich haßte diese Fahrten. Bei uns war es wenigstens am Morgen noch kühl, weil immer ein Lüftchen über die Berge strich. Wenn ich dann aber hinabtauchte in die Hitze, in die übervölkerte Stadt Locarno, halbstunden lang um die Piazza kreiste, bis endlich irgendwo ein Parkplatz frei wurde, dann bekam ich richtige Platzangst.
In der Hochsaison gab es nur ein einziges Geschäft, in dem ich gerne einkaufte: die Baumaterialhandlung. Sie kannten mich von meiner Lehrzeit bei Marco.
„Nun, Signorina mit der Maurerkelle, was darf es denn heute sein?“, fragte der Verkäufer händereibend. Er war ein kraftstrotzender, hübscher Mann von etwa dreißig Jahren mit den allerschönsten Zähnen, die ich je gesehen habe. Seitdem ich ihm einmal eine Flasche Barbera verehrt hatte, wurde ich bedient wie eine Königin.
„Zwei Bund Holzleisten fünfundzwanzig mal fünfzig Millimeter, drei Bund Bodenbretter siebenundzwanzig Millimeter, alle fünf Meter lang, vier Rollen Dachpappe F2 und drei Rollen Glaswolle vier Zentimeter, per piacere.“
Dann entbrannte unweigerlich unser alter Streit:
„So, und wie gedenken Sie dies alles in Ihr Maschinchen zu stopfen?“
„Sie wissen ja, es geht immer. Schauen Sie sich doch meinen schönen Gepäckträger an.“
„Nein, heute tippe ich nicht auf Sie, ich würde bestimmt verlieren.“
Er stellte das Gewünschte vor mich hin und erwartete mit verschränkten Armen meine Anweisung für die fachgerechte Beladung. Ein paar andere Arbeiter schauten jeweils grinsend zu. Es war üblich geworden, Wetten abzuschließen, ob ich alle bestellte Ware in und auf mein Wägelchen brachte. Der Verkäufer hatte mir bis jetzt vertraut und immer gewonnen. Bei meiner Glaswollebestellung wurde er unsicher.
„Per bacco, ich habe verloren“, rief er enttäuscht,
„alles ist drin.“
Die Autofirma, die dieses kleinste Kombiauto erfand, hat bei mir ein Diplom gut.
Nun mußte Michelangelo nach Locarno. Eigentlich schadete es nichts, wenn er sah, daß das Einkaufen in den überfüllten Läden, das Parkplatzsuchen, die Hitze alles andere als vergnüglich waren. Hoffentlich kam er zum Mittagessen wieder heim.
Endlich konnte ich mich ausruhen, ohne schlechtes Gewissen wegen unerledigter Arbeit die Aussicht genießen, die Tiere beobachten – eigentlich Ferien machen. Und in fünf, sechs Tagen würde die Verstauchung geheilt sein.