Eine Familiengeschichte rund um das Kasperlitheater.

Wir Kinder der 70iger. Das Kasperlitheater und meine Tante Frieda. Ein herrlicher und sehr persönlicher Aufsatz über die 60iger-Jahre.

Zwar raucht Kasperli keine Marocaine Filter und schläft auch nicht in Papierleintüchern. Tante Frieda tat beides. 

Roland Voser, 31. August 2018

Meinte Tante hiess Frieda.

Sie rauchte, und das ausgiebig und oft. Genau wie ihr Mann Ernst auch. Als ich als Kind einmal bei den beiden und ihrer Tochter in den Ferien weilte, war denn auch der Höhepunkt dieser Ferien ein Ausflug in die Toura. Die Toura war ein Vorgänger eines Cash & Carry-Grosshandelsmarkts, und dort ging man mit einer speziellen Karte einkaufen. Frieda, Ernst, die Tochter und ich diesmal auch. Und zwar Zigaretten. Stangenweise Marocaine Filter. Die Roten, die mein Vater damals auch noch rauchte. 

Diese Ferien waren nicht nur wegen der gefühlten 50 Stangen eingekaufter Zigaretten für mich eindrücklich. Denn Frieda und Ernst (und natürlich auch ihre Tochter) hatten nach Jahren des Wohnens in einer relativ kleinen Mietwohnung im roten Backsteinhochhaus in Rohr anfangs der 1970iger ihr von ihnen selbst in Auftrag gegebenes Flachdachhaus bezogen. 

Hochtoupiert im Backsteinhochhaus.

Aber schon die Wohnung war eigentümlich. Besuch wurde konsequent in der Wohnküche (durch einen kleinen Gang von der Eingangszone abgetrennt und gleichzeitig - da ohne Türe - mit ihr offen verbunden) empfangen.

Da hockten wir, also meine Mutter und ihre Schwester Frieda, die Tochter und ich - wenn wir nicht ins Kinderzimmer befohlen wurden - am Küchentisch, und wir Kinder hörten uns schläfrig das endlose Erzählen der beiden Frauen mit hoch toupierten Frisuren an, die sie sich jeweils unten im am Hochhaus angehängten Rechteckbau beim ansässigen Agglo-Coiffeur während Stunden unter der Haube im feuchtwarmen Klima irgendwie angedeihen liessen. 

Während dieser langen Frisörstunden spielten wir Kinder jeweils auf dem Parkplatz hinter dem Rechteckbau (also sicher, weil von der Strasse abgewandt). Aber nicht auf dem Spielplatz der Siedlung. Denn dieser war immer abgeschlossen, weil Kinder meistens Unordnung hinterliessen und der Hausabwart dies so zu verhindern wusste.

Wir hatten es trotzdem lustig. Wobei manchmal ein anderes Kind dazu kam, welches sehr frech war und uns möglicherweise haute, wenn wir nicht genau das taten, was es jetzt wieder wollte. Also machten wir uns dann jeweils aus dem Staub und trieben uns im Treppenhaus rum, bis endlich irgendwann wieder die Szene mit dem Küchentisch die Handlung übernahm.

Runtergelassene Storen im Wohnzimmer.

Eigentlich bestand diese Wohnung nur aus Küche und Kinderzimmer. Im Wohnzimmer waren die Storen immer unten. Nur in ganz seltenen Fällen durften wir es betreten und die Kasperliplatten anhören. Mein Gott, ich fürchtete mich jedesmal vor der Geschichte auf der Langspielplatte Nr. 2 “De Tüüfel Luuspelz und s’armi Pilzfraueli”, obwohl - weil das einzige Exemplar - ich das Hörspiel schon hundert Mal gehört hatte. Trotzdem bettelte ich, bis ich auf meinen Geburtstage 1969 dann das lang ersehnte Hörspiel “S’Mondchalb und de Hurrlibuzz” geschenkt bekam.

Wo Tante Frieda und Onkel Ernst in dieser Wohnung selbst schliefen, war mir unbekannt. Diese eine Türe blieb immer verschlossen.

Verspiegelte Sensation mit Pool.

Nun, das erwähnte Flachdachhaus war eine kleine Sensation. Denn es hatte verspiegelte Fenster. Also konnte von aussen niemand rein schauen. Ausser es war Nacht. Dann konnte man nicht mehr hinaus sehen, dafür umso besser herein. Aus diesem Grund wurden die Storen bei Einbruch der Dunkelheit schleunigst runtergezogen, damit die Szenerie im Innern von Aussen unbeobachtet blieb.

Es hatte auch einen Pool und drei Toiletten. Frieda hatte rasch klar gemacht, dass es eine Toilette für die Frauen - also sie - gab und eine für die anderen. Ich wurde auf die Toilette von Ernst verwiesen. Die Gästetoilette sollte nicht benutzt werden, damit sie nicht übermässig benutzt würde. Wo die Tochter nun … naja, ich weiss es beim besten Willen nicht mehr. Vielleicht hing das alles auch mit dem Putzplan zusammen, den die Putzfrau peinlichst genau zu befolgen hatte.

Papierbettwäsche zu Verdi aus Prinzip.

Nicht, dass jetzt ein falsches Bild von Tante Frieda entstehen würde. Tante Frieda hatte einfach ihre Prinzipien. Ich durfte zum Beispiel im neuen Gästezimmer schlafen. Sie hatte ein Bett mit neuartiger Papierbettwäsche bezogen, welche nicht wahnsinnig angenehm war und ich nach der zweiten Nacht bereits strampelnd zerrissen hatte. Macht nichts, sagte Tante Frieda, es geht auch so. Es ging auch so. Noch ein paar Nächte lang.

Tante Frieda spielte auch Geige, kannte jede Oper auswendig (sie war der Verdi-Typ), beherrschte Tennis, fuhr einen blauen Mini mit Automatikgetriebe der Urgeneration und sprach Russisch. Und sie rauchte mit Ernst, was das Zeug hielt. Ernst fuhr solange Citroën DS, wie sie gebaut wurden.

Später ging ich sie dann jeweils in meinem 2 CV besuchen und rauchte mit ihr eine. Sie war einfach sehr cool. 

Einmal sagte sie, sie lebe jetzt in vollen Zügen und irgendwann sei dann fertig. Sie wolle gar nicht alt werden. Sondern das Leben einfach geniessen und keine Kompromisse eingehen. Sie mache jetzt einfach, was sie wolle. Und nach dem Tod gibts sowieso nichts. Es ist dann einfach fertig und das sei gut so. 

Tante Frieda starb etwa im gleichen Alter wie ihr Vater, etwa Mitte Fünfzig. Ich bin mir nicht mehr sicher, aber ich denke, es war in den 1990iger Jahren. Ernst folgte ihr noch vor der Jahrtausendwende. 

Ich habe im Februar 2007 mit dem Rauchen aufgehört.

Epilog.

Am 30.8.2016 sind wir mit meinen Eltern (Mutter 82 Jahre, Vater 87) beim Notar gewesen. Wir haben einen Erbvertrag und für beide je einen Vorsorgeauftrag beurkunden lassen. Ihre Patientenverfügungen haben wir vorgestern unterzeichnet. Wir sind alle froh, dass damit jetzt (zugegebenermassen endlich) viele wichtige Dinge geregelt sind. Heute geht mein Bruder mit dem Vater den Auhof, ein Seniorenheim, besichtigen.

Wir hoffen alle, dass das ein guter Ort für unsere alten Leute sein könnte, wenn sie sich einmal nicht mehr um das von ihnen 1960 am Höhenweg gebaute Haus mit Blick auf das Schloss Wildegg, das Aaretal mit der Cementfabrik, den Staufberg und die Lenzburg kümmern möchten.

Epilog 2.

Am 4.10.2016 ist meine Mutter nach langer Krankheit unerwartet schnell verstorben. Am 18.12.2017 haben wir das Elternhaus verkauft und mein Vater ist zu meinem Bruder gezogen. Eine gute Lösung.

Epilog 3.

Am 6.10.2020 ist mein Vater nach kurzem Aufenthalt im Pflegeheim verstorben. Ich gehöre nun zu den Nächsten.

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(c) 2018: In der Nähe von Frauenfeld, Kanton Thurgau, Schweiz. Foto: Maurizio Vogrig

 

Seit 2018 Chief Editor, Mitbegründer, Verwaltungsrat und Teilhaber von smartmyway, Autor, Coach, Mentor und Berater. Vorher als Geschäftsführer von Media Markt E-Commerce AG, Media Markt Basel AG, Microspot AG sowie in den Geschäftsleitungen von Interdiscount AG und NCR (Schweiz) AG tätig.

Experte für Digitalisierung, Digital-Business, Handel, Sales & Marketing, E-Commerce, Strategie, Geschäftsentwicklung, Transformationen, Turn Around, Innovation, Coaching, erneuerbare Energien, Medien, Professional Services, Category Management, Supply Chain Management